Konzept Kinderschutz

Inhaltsverzeichnis

Autor: Karin Bürstl

Auftrag und Angebot

Das Kantonsspital Aarau führt im kantonalen Leistungsauftrag eine interdisziplinäre Fachgruppe Kinderschutz. Der Kinderschutz Aarau befasst sich mit Kindern und Jugendlichen, bei denen der Verdacht oder die Gewissheit besteht, dass sie körperlicher oder psychischer Misshandlung, Vernachlässigung oder sexuellen Übergriffen ausgesetzt waren oder weiterhin sind. Der Kinderschutz Aarau strebt eine medizinische, psychologische und soziale Gesamtbeurteilung der Gefährdungslage an und empfiehlt Massnahmen oder setzt diese selber um. Die Interventionen vom Kinderschutz Aarau zielen darauf ab, das Kind zukünftig vor Misshandlung zu schützen und seine Lebenssituation zu verbessern.

 

  1.  

Leistungsvertrag und Falldefinition

Das Departement Gesundheit und Soziales (DGS) entschädigt das Kantonsspital Aarau gemäss bestehendem Leistungsvertrag über die gemeinwirtschaftlichen Leistungen pro Kinderschutz-Fall. Als Fall gelten konkrete Anfragen an den Kinderschutz Aarau bezüglich der Situation eines Kindes, wenn der Verdacht auf körperliche, psychische oder sexuelle Gewalt oder Vernachlässigung vorliegt. Fälle können spitalintern, von Fachpersonen und Fachstellen (z.B. Schulen, Anlaufstelle gegen häusliche Gewalt, Sozialdienste) wie auch von den betroffenen Kindern und Jugendlichen selber und von Privatpersonen gemeldet werden.

 

Sobald der Kinderschutz Aarau eine Einschätzung oder Empfehlungen zum weiteren Vorgehen erarbeitet, wird ein schriftliches Dossier eröffnet und der Fall in einer Datenbank für statistische Zwecke erfasst. Der Kinderschutz Aarau registriert das Dossier auf den Namen des Kindes oder anonym als Fachberatung. Für Geschwister wird ein gemeinsames Dossier geführt, ausser wenn das Geschwisterkind einer anderen Gefährdungssituation oder Misshandlungsform ausgesetzt ist. Der Kinderschutz Aarau protokolliert im Dossier sämtliche Kontakte (Telefonate, Gespräche und Korrespondenz) und hält die Einschätzung und Empfehlungen vom Kinderschutz Aarau fest.

 

Nicht protokolliert und als Fall gerechnet werden Anfragen, die mit einer telefonischen Triage-Auskunft erledigt sind oder in denen die meldende Person ohne weitere Beratung durch den Kinderschutz Aarau an eine andere Stelle verwiesen wird (reine Triage). Wird ein Kind nach Fallabschluss von einer anderen Stelle erneut an den Kinderschutz Aarau gemeldet, wird ein neuer Fall eröffnet.

 

  1.  

Angebot vom Kinderschutz Aarau

Das Angebot vom Kinderschutz Aarau lässt sich in drei Kategorien beschreiben:

  1. Abklärungen und Beurteilungen bei stationären und ambulanten Fällen bei Verdacht auf Kindsmisshandlung
    Der Kinderschutz Aarau klärt somatische, psychiatrische Aspekte sowie die psychosoziale und rechtliche Situation der betroffenen Kinder ab. Er erarbeitet Vorschläge für die Verbesserung seiner Lebensbedingungen und leitet die nötigen Schritte ein.
  2. Fachberatung von Betroffenen und Fachpersonen bei Verdacht auf Kindsmisshandlung
    Der Kinderschutz Aarau unterstützt Anfragende bei der Einschätzung von Beobachtungen rund um vermutete Kindsmisshandlung und gibt Empfehlungen zum weiteren Vorgehen ab. Dies kann in Form von telefonischer Beratung, fachlichem Coaching, der Vermittlung von Informationen oder der Teilnahme an einer interdisziplinären Fallbesprechung oder Helfersitzung sein. Die meldende Person schildert den Fall üblicherweise anonymisiert. Die Fallverantwortung bleibt bei der meldenden Person. In Ausnahmefällen kann der Kinderschutz Aarau den Fall zur weitere Bearbeitung übernehmen. Dies kann beispielsweise dann der Fall sein, wenn die meldende Person keine Fachperson ist und es ihr aufgrund fehlenden Fachwissens nicht möglich ist, ein Gespräch mit dem betroffenen Kind zu führen. Ob es zu einer Fallübernahme durch den Kinderschutz Aarau kommt, wird im Team vom Kinderschutz Aarau entschieden.
  3. Pro-aktive Beratung von gewaltbetroffenen Familien im Auftrag der Anlaufstelle gegen häusliche Gewalt
    Nach Polizeieinsätzen wegen häuslicher Gewalt zieht die Anlaufstelle gegen häusliche Gewalt den Kinderschutz Aarau bei. Der Kinderschutz Aarau klärt mit den involvierten Eltern und Kindern die Belastungen der Kinder durch die Gewalt, sensibilisiert die Eltern für die kindlichen Nöte und sucht mit den Familien und involvierten Fachpersonen Wege zur Verbesserung der Situation. Die Beratung ist für die betroffenen Familien freiwillig. Bei einer klaren Gefährdungslage kann der Kinderschutz Aarau eine Gefährdungsmeldung an die zuständige Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde erstatten.

 

  1.  

Weiterbildung

Fachberatung ist nicht möglich ohne entsprechende Vernetzung und Weiterbildungsangebote. Der Kinderschutz Aarau pflegt den fachlichen Austausch mit Berufsgruppen, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten und dadurch Kenntnis von möglichen Misshandlungen oder Gefährdungslagen erhalten. Der Kinderschutz Aarau bietet Weiterbildungen an, damit die Fachpersonen

  • die Formen von Kindsmisshandlungen sowie Interventionsmöglichkeiten kennen;
  • ein Bewusstsein für Kindsgefährdung (z.B. Sucht, häusliche Gewalt, Trennungskonflikte, psychische Erkrankung eines Elternteils) und -Misshandlung entwickeln;
  • bei Hinweisen auf Misshandlung oder Gefährdung sensibel vorgehen und ggf. Fachberatung durch den Kinderschutz Aarau einholen.

 

Zielgruppen der Weiterbildungen sind

  • die Mitarbeitenden der Klinik für Kinder und Jugendliche und der Frauenklinik, Mitarbeitende des Kantonsspitals Aarau, welche in ihrer Tätigkeit mit Kindern und Familien zu tun haben,
  • Schulsozialarbeitende und Lehrpersonen,
  • Ärzte und Therapeuten, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten,
  • Fachpersonen aus dem frühkindlichen Bereich (Hebammen, Mütterberatung, Heilpädagogen, Kinderkrippen, usw.),
  • Polizei.

 

Werthaltung

Der Kinderschutz Aarau orientiert sich bei ihrer Arbeit an den ethischen Richtlinien der jeweiligen Professionen, der UNO-Kinderrechtskonvention sowie an den Maximen des Service- und Verhaltensleitbild des Kantonsspital Aarau vom 1. Januar 2016:

 

Dialog

  • Wir informieren rechtzeitig, klar und angemessen.
  • Wir argumentieren sinn- und lösungsorientiert.
  • In der Kinderschutzarbeit hören wir den betroffenen Familien zu, gehen auf ihre Problem- und Lösungsdefinitionen ein  und erarbeiten mit ihnen und unter Einbezug ihres privaten und professionellen Netzes Schritte zur Verbesserung der Situation.

 

Respekt

  • Wir begegnen allen freundlich, persönlich und kompetent.
  • Im Kinderschutz achten wir Menschen in ihrer Persönlichkeit und in ihren Wertvorstellungen.
  • Oberste Maxime unserer Arbeit bildet das Wohl der betroffenen Kinder.

 

Initiative

  • Wir engagieren uns für das Wohl der betroffenen Kinder und die Anliegen der meldenden Personen.
  • Wir engagieren uns für eine Sensibilisierung für Gefährdungslagen von Kindern und angepasste Interventionen bei Verdacht auf Kindsmisshandlung.

 

Verantwortung

  • Wir handeln couragiert und verantwortungsvoll.
  • Wir halten uns an Abmachungen.
  • Im Bewusstsein der möglichen Auswirkungen unseres Handelns für das Kind und seine Familie erheben und dokumentieren wir den Sachverhalt sorgfältig.
  • Wir begründen unser Handeln methodisch und handeln innerhalb unseres fachlichen Auftrages und des gesetzlichen Rahmens.

 

Empathie

  • Wir gehen auf die betroffenen Kinder und ihre Bedürfnisse ein.
  • Wir beziehen die Angehörigen, insbesondere die Eltern, mit ein.

 

Struktur und Arbeitsweise vom Kinderschutz Aarau

Teamzusammensetzung

Die Mitglieder vom Kinderschutz Aarau stammen aus folgenden Fachgebieten:

  • Soziale Arbeit (200 Stellenprozente mit unterschiedlichstem Berufshintergrund)
  • Kinder- und Jugendpsychologie (20 Stellenprozente als Vertretung des Schulpsychologischen Dienstes)
  • Kinder- und Jugendmedizin (Pädiaterin KKJ, 20 Stellenprozente Kinderschutz Aarau)
  • Pflege (Pflegefachfrau KKJ, 20 Stellenprozente Kinderschutz Aarau)
  • Recht (Jurist*in bei Bedarf in Einzelfällen)

 

Bei Bedarf werden Fachpersonen aus weiteren Disziplinen wie beispielsweise Rechtsmedizin, Kinder- und Jugendpsychiatrie, Kindergynäkologie, Kinderchirurgie oder Radiologie konsiliarisch beigezogen.

 

  1.  

Leitung

Die Endverantwortung für die Arbeit vom Kinderschutz Aarau liegt beim Chefarzt Kinderschutz. Die operative Leitung ist Mitglied vom Kinderschutz Aarau und dient intern und extern als Ansprechperson.  

 

  1.  

Erreichbarkeit und Sitzungen

Der Kinderschutz Aarau ist telefonisch zu folgenden Zeiten erreichbar:

  • Montag- bis Freitagvormittag von 08.30 Uhr bis 12.00 Uhr
  • Montag- bis Donnerstagnachmittag von 13.00 Uhr bis 17.00 Uhr, sowie
  • Freitagnachmittag von 13.00 Uhr bis 16.00 Uhr

 

Per E-Mail ist der Kinderschutz Aarau zu den oben erwähnten Öffnungszeiten erreichbar.

 

Der Kinderschutz Aarau trifft sich einmal wöchentlich zur regulären Kinderschutz-Sitzung für Fallbesprechungen. Dringende Anfragen werden gleichentags vom Kinderschutz Aarau bearbeitet.
 

  1.  

Geheimhaltungspflicht

Die Mitglieder vom Kinderschutz Aarau unterstehen dem Berufsgeheimnis gemäss § 19 Gesundheitsgesetz des Kantons Aargau. Der Datenaustausch mit externen Fachstellen ist mit Vollmacht des betroffenen urteilsfähigen Kindes, der gesetzlichen Vertretung des Kindes, gestützt auf ein gesetzliches Melderecht oder aufgrund einer Entbindung vom Berufsgeheimnis durch das DGS möglich[1].

 

  1.  

Kompetenzen

Grundsätzlich werden alle eingehenden Fälle mindestens im Vieraugen-Prinzip besprochen sowie das weitere Vorgehen festgelegt. Fälle mit hoher Komplexität oder einer möglicherweise hohen Gefährdung des Kindes werden im Gesamtteam besprochen.[2] Über Gefährdungsmeldungen und Strafanzeigen wird im Gesamtteam vom Kinderschutz Aarau entschieden, sofern keine zeitliche Dringlichkeit besteht. Auch bei Dringlichkeit werden diese Massnahmen immer von mindestens zwei Mitgliedern vom Kinderschutz Aarau gemeinsam beurteilt. Bei Strafanzeigen, die der Kinderschutz Aarau selber einreicht, wird der Chefarzt Kinderschutz vorgängig mündlich orientiert.

 

Der Kinderschutz Aarau bemüht sich um eine gemeinsame Einschätzung eines Falles, die  alle Teammitglieder mittragen können. Falls sich eine teaminterne Kontroverse nicht auflösen lässt oder einzelne Mitglieder der Meinung sind, das vorgeschlagene Vorgehen liege ausserhalb des Ermessenspielraumes, wird der Chefarzt Kinderschutz beigezogen.

 

  1.  

Schutz- und Beteiligungsrechte der betroffenen Kinder und Jugendlichen

Die Schutz- und Beteiligungsrechte von Kinder und Jugendlichen im Sinne der Kinderrechtskonvention sind verbindlich wahrzunehmen. Kinder sind ihrer Entwicklung und ihren Fähigkeiten entsprechend zu informieren und in die Entscheidungen mit einzubeziehen.

 

  1.  

Fallbesprechungen

Der Kinderschutz Aarau beurteilt Fälle nach folgendem Raster:

FALLVORSTELLUNG

Fallvorstellung durch fallführendes Kinderschutz Aarau -Mitglied

  • Wichtigste Fakten
  • Fragestellung für die Sitzung
  • Fragestellung der meldenden Person

Interne Fälle

Stationsarzt

  • somatischen Befunde
  • Ausstehende Untersuchungen

Pflegeteam

  • Zusammenarbeit/Kommunikation mit den Eltern
  • Interaktion Eltern-Kind

 

FRAGEN

 

Verständnisfragen

  • Unklarheiten/Rückfragen zum Sachverhalt

 

EINSCHÄTZUNG

Protokoll

Fehlende Informationen

  • Welche Informationen fehlen für die Fallbeurteilung?
  • Kann Gefährdung trotzdem eingeschätzt werden?

Kinderschutzfall ja/nein?

  • Wenn nein: welche Stelle ist zuständig?
  • Falls ja: Art der Gefährdung?
  • Grad der Gefährdung?

Einschätzung Dringlichkeit

  • Akute Gefährdung?
  • Notwendigkeit für sofortige Interventionen?

Sicherheit der Einschätzung

  • Wie sicher sind wir mit der Gefährdungseinschätzung?

Antwort Fragestellung

  • Antwort auf die spezifischen Fragen der meldenden Person

 

WEITERES VORGEHEN

Protokoll

Sofortige Interventionen

  • Strafanzeige
  • Gefährdungsmeldung

Zusätzliche Abklärungen

(inkl. Zuständigkeit)

 

  • Somatische Abklärungen
  • Gespräch mit Kind oder Eltern
  • Kontakt mit Drittstellen

Nächste KSG-Sitzung

  • Termin
  • Teilnehmende (ev. Beizug externe Stellen, z.B. KESB)

Casemanagement

  • Verantwortlichkeiten für Informationsfluss und Koordination festlegen.

 

ZUSAMMENFASSUNG durch fallführende Person

Einschätzung und weiteres Vorgehen

  • Welche Punkte wurden ins Protokoll aufgenommen
  • Nächste Schritte

 

Qualitätssicherung

Der Kinderschutz Aarau bildet sich fortlaufend weiter und evaluiert die eigene Arbeitsweise. Instrumente für die Qualitätssicherung sind folgende:

  • Supervision. Der Kinderschutz Aarau hat 6 x jährlich eine Teamsupervision, bei der Fälle, Grundsatzfragen und Teamprozesse thematisiert werden. Das Thema wird jeweils vorgängig vom Team bestimmt.
  • Vernetzung mit anderen Fachstellen. Der Kinderschutz Aarau trifft sich 1x jährlich mit der Kinderschutzgruppe Baden. Die Treffen dienen der Kontaktpflege, gemeinsamen Weiterbildungen und der fachlichen Reflexion von Fällen und Fragestellungen. Zur weiteren Entwicklung der eigenen Arbeitsweise greift der Kinderschutz Aarau ergänzend auf die Erfahrungen anderer Kinderschutzgruppen oder anderer Fachstellen (z.B. Opferhilfestelle, Jugendanwaltschaft) zurück.     Der Kinderschutz Aarau trifft sich periodisch mit anderen Fachstellen im Bereich Gewaltprävention zur Koordination der Arbeit und zum Fachaustausch, insbesondere mit der Anlaufstelle gegen häusliche Gewalt, der Opferhilfe und dem Frauenhaus.
  • Weiterbildung. Die Mitglieder vom Kinderschutz Aarau bilden sich laufend weiter und besuchen relevante Weiterbildungen. Rückmeldungen dazu, mit Fokus auf die eigenen Erkenntnisgewinne, werden im sogenannten Journal Club an die anderen Teammitglieder transferiert und dokumentiert.
  • Teamweiterbildung. Einmal jährlich engagiert der Kinderschutz Aarau eine externe Dozentin/einen externen Dozenten für eine halbtägige Weiterbildung zu einem vom Team gewählten Thema.
  • Standardisierung der Abklärungen. Der Kinderschutz Aarau erarbeitet Gesprächsleitfäden für bestimmte Settings (z.B. Erstgespräch bei häuslicher Gewalt, Abklärungsgespräche mit Kindern) und wendet diese in der Beratung an.
  • Fallbezogenes Einholen von Feedback. In der Fachberatung von Fachstellen (z.B. Schulsozialarbeit, Polizei, Hebammen, KESB) fragen wir nach dem Fallverlauf und der Umsetzung unserer Empfehlungen. Wir evaluieren unser Handeln aufgrund der Rückmeldungen aus dem konkreten Fallverlauf. 
  • Gemeinsame Gespräche. Bei komplexen Fällen nutzen wir die Möglichkeit, dass zwei Mitglieder vom Kinderschutz Aarau gemeinsame Gespräche führen. So lässt sich der fachliche Blick erweitern und Gesprächdynamiken besser beobachtet. 

 

 

[1] Siehe dazu das Merkblatt vom Kinderschutz Aarau vom Januar 2016 zu Geheimhaltung und Datenweitergabe im Kinderschutz

[2] Siehe das Merkblatt Kompetenzen in der Fallbearbeitung vom Dezember 2015